Folge 39-Teil 2: Die geteilte AN:NA Galionsfigur der Literatur der DDR Betonkopfkommunistin in der BRD Neu Nachdenken über Anna Seghers

Sie war eine der wichtigsten und weltweit die bekannteste Erzählerin des 20. Jahrhunderts aus Deutschland; zwischen Nazizeit und Kaltem Krieg die einzige Autorin der Weltliteratur aus unserer Region.

Und sicher die umstrittenste: Anna Seghers – als Netty Reiling 1900 in Mainz geboren, gestorben 1983 in Berlin/DDR.

Oft falsch beurteilt in ihren beiden deutschen Ländern. In der DDR als Autorin eines Sozialistischen Realismus (was sie nicht war) und als Galionsfigur der Kultur des Regimes ausgestellt. In der BRD als Apologetin eines betonköpfigen kommunistischen Systems (was sie auch nicht war) verhasst, bekämpft und ignoriert.
Jahrzehntelang ist keines ihrer beiden deutschen Heimatländer (weder das der gewählten noch das der eingeborenen Heimat) ihrer Literatur und ihrem Denken annähernd gerecht geworden.

Vielleicht mit Ausnahme der Rezeption ihrer beiden bekanntesten Romane: „Das siebte Kreuz“, das eine Flucht aus dem KZ zwischen Worms, Mainz und Frankfurt erzählt, und dem Roman „Transit“ über Flucht und Exil vor den Nazis. Und so blieben bis heute Denken und Werk unserer wichtigsten Autorin der Weltliteratur in zentralen Teilen, zumindest einer breiteren literarischen Öffentlichkeit, kaum bekannt.

Deshalb werden Hans Berkessel (Mainzer Historiker, Mitarbeiter der Anna-Seghers-Werkausgabe und Mitbegründer der Anna-Seghers Gesellschaft u.v.a.) und Theo Schneider in mehreren Folgen in Gespräch und Lesung Anna Seghers und ihr Werk neu beleuchten.

In Folge 39 im Februar 2024 reden wir von ihrer Kindheit und Jugend in Mainz, ihrer Studienzeit in Heidelberg, ihrer Heirat und ihrer Flucht vor den Nazis sowie über ihre frühen Werke „Der Ausflug der toten Mädchen“, „Die Fischer von Santa Barbara“ und „Der Kopflohn“.

Der Kopflohn, Titel der Erstausgabe, Querido Verlag 1933
(c) Stadtarchiv Mainz
Das siebte Kreuz, Titelholzschnitt der Ausgabe Mexiko 1942; (c) Stadtarchiv Mainz

Auswahlbibliographie

ANNA SEGHERS, Werkausgabe, hg. v. Helen Fehervary, Bernd Spies u. Carsten Jacobi. Berlin: Aufbau-Verlag 2000 ff. [Zurzeit ist der Band „Der Kopflohn“ in Vorbereitung.]
ANNA SEGHERS, Ich erwarte Eure Briefe wie den Besuch der besten Freunde. Briefe 1924 – 1952, hg. v. Christiane Zehl Romero u. Almut Giesecke. Berlin 2008.
ANNA SEGHERS, Tage wie Staubsand. Briefe 1953 – 1983, hg. v. Christiane Zehl Romero u. Almut Giesecke. Berlin 2010.
ANNA SEGHERS HANDBUCH, Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Carola Hilmes u. Ilse Nagelschmidt. Berlin 2020.
ARGONAUTENSCHIFF, Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz, Band 1: Berlin 1992 ff. (zuletzt: 27/2019).
SIGRID BOCK, Der Weg führt nach St. Barbara: Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008.
SONJA HILZINGER, Anna Seghers. Stuttgart 2000.
MONIKA MELCHERT, Wilde und zarte Träume. Anna Seghers Jahre im Pariser Exil 1933 – 1940. Berlin 2018.
MONIKA MELCHERT, Im Schutz von Adler und Schlange. Anna Seghers im mexikanischen Exil. Berlin 2020.
PIERRE RADVANYI, Jenseits des Stroms. Erinnerungen an meine Mutter Anna Seghers. Berlin 2005.
ACHIM ROSCHER, „Mit einer Flügeltür ins Freie fliegen.“ Gespräche mit Anna Seghers. Berlin 2019.
ALEXANDER STEPHAN: Anna Seghers. Das siebte Kreuz. Welt und Wirkung eines Romans. Berlin1996.
WILHELM VON STERNBURG, Anna Seghers. Ein biografischer Essay. [Reihe: Köpfe der Region, hg. v. Hans Berkessel, Bd. 1] Ingelheim 2010.
VOLKER WEIDERMANN, Brennendes Licht. Anna Seghers in Mexiko. Berlin 2020.
CHRISTIANE ZEHL ROMERO, Anna Seghers. Eine Biographie 1900 – 1947. Berlin 2000.
CHRISTIANE ZEHL ROMERO, Anna Seghers. Eine Biographie 1947 – 1983. Berlin 2003.

Anna Seghers 1965 in Mainz; (c) Stadtarchiv Mainz
Anna Seghers erhält die Ehrenbürgerurkunde des Stadt Mainz am 22.11.1981;
(c) Stadtarchiv Mainz
Anna Seghers Lesung aus Der Ausflug der toten Mädchen 1965 in der Volkshochschule Mainz; (c) Stadtarchiv Mainz

Zeugnisse

Walter Benjamin
Sie erzählt mit Pausen wie einer, der auf die berufenen Hörer im Stillen wartet und, um Zeit zu gewinnen, manchmal innehält. «Je später auf den Abend, desto schöner die Gäste.» Diese Spannung durchzieht das Buch. Es ist weit entfernt von der Promptheit der Reportage, die nicht viel nachfragt, an wen sie sich eigentlich wendet. Es ist ebenso weit entfernt vom Roman, der im Grunde nur an den Leser denkt. Die Stimme der Erzählerin hat nicht abgedankt. Viele Geschichten sind in das Buch eingesprengt, welche darin auf den Hörer warten.
«Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen:
Zu Anna Seghers‘ Roman », 1938

Bertolt Brecht
Bei der Anna mußt wissen, wenn du denkst, sie redet mit dir, strickt sie an einem Roman, den sie grad unter hat, und ganz hinten, da, wo schon niemand mehr denkt, daß noch was ist, da arbeit’s‘ an etwas Theoretischem, die Anna.
1952, berichtet von Erwin Strittmatter in «Anna und ich», 1975

Christa Wolf
Sie zaubert. Bezaubert. Wie geht das zu: Zaubern in nüchterner Zeit? Indem sie sich selbst nicht gestattet, zu wissen, was sie da tut. Eine Ahnung davon sorgfältig vor sich versteckt. So weiß sie also und weiß nicht und wacht streng über alles: Über die Dauer des Zaubers, seine Zusammensetzung und seine Wirkung, über Wissen und Nichtwissen und darüber, daß dies alles immer in der richtigen Mischung vorhanden, der Verrat nicht immer aufgefüllt ist, die Anstrengung hinter dem schwebenden Gleichgewicht unbemerkt bleibt und wir also getrost zu unserem Glück daran glauben können.
«Bei Anna Seghers», 1972

Carl Zuckmayer
Wenn von Anna Seghers die Rede ist, muß ich immer an Netty Radvanyi denken: denn diese kannte ich (die Anna Seghers ist mir dann, leider, nie mehr in persona begegnet), ja ich kenne sie noch, ich sehe sie so genau, als hätte ich sie damals im Sommer des Jahres 1920 zu Heidelberg, gemalt und das Bild aufbewahrt. […] Sie selbst war damals sehr still, von freundlicher Zurückhaltung, fast schüchtern und – wie läßt sich das sagen – in einer ganz unkonventionellen Weise „hübsch und schön“ (so sagt es Thomas Mann von dem jungen Joseph). Die Augen, achatbraun, verbargen ihre Klugheit hinter einem immer etwas kindlich-erstaunt wirkenden, manchmal auch etwas schläfrigen Ausdruck. „Sie hat die Grazie einer javanischen Tempeltänzerin“, sagte Fraenger, „welche sich ausruht.“ Vielleicht ruhte sie sich damals wirklich aus – für strengeres Beginnen.
Wenige Jahre später hat sie sich, mit dem Aufstand der Fischer von St. Barbara, als eines der stärksten literarischen Talente dieser Zeit ausgewiesen, ja sie brachte einen neuen, eigenen Tonfall, der echt war und niemals modisch wurde. Dann aber, im mexikanischen Exil, hat sie das Werk geschaffen, welches (ohne den Ausflug der toten Mädchen und anderes zu vergessen) als überragendes Denkmal, Mahnmal, aus dem Zeitschaffen herausragt und Bestand haben wird: Das siebte Kreuz.
Es ist das einzige, epische Werk der gesamten deutschen Exilliteratur, in dem nicht nur mit gerechtem Zorn Partei genommen wird, sondern – aus der Ferne – ein menschlich glaubhaftes Bild des verfinsterten Deutschland gelungen ist. Es ist nicht sine ira et studio geschrieben, ja es stürmt in heißer Empörung gegen die Makel der Zeit an und erhebt sich dennoch zur Zeitlosigkeit. Da lebt unsere alte Stadt, die Gassen, der Dom von Mainz, schon im Sog der Verhältnisse, doch unvergänglich durch das Wort. Da entschleiert sich die Rheinebene, das wellige Land zwischen Worms und Mainz, zu einer geschichtsträchtigen Landschaft von europäischer Weltsicht. Da tönt, im nächtlichen Gespräch der Frauen, mitten aus Dumpfheit und Gleichgültigkeit, die ahnende Angst an und das hilflose Erbarmen. Da steht der Schäfer am Taunushang, wie von Dürer gezeichnet.
Ich grüße Netty Reiling in Bewunderung für die Dichterin Anna Seghers.
Grußwort
In: Anna Seghers aus Mainz. Hrsg. von Walter Heist, Mainz 1973

Erwin Strittmatter
Anna kann rührend hilflos sein, manchmal gezielt, manchmal gespielt und manchmal echt…Am hilflosesten aber sah ich Anna im Schweinestall ihrer Genossenschaft. Man erklärte ihr die Qualitäten der Sauen und die Gewichtigkeit des Ebers. Anna wandte sich hilfeheischend mir zu: «Allweil diese Mengen Schweine, findest nit auch? Immer diese Mäuler und die Wackelei mit dene Rüssel da, gell?»
«Anna und ich», 1975

Erich Loest
Nun ist es ein weit verbreitetes Spiel, nachzusinnen, ob Anna Seghers feig war. Das ist bedeutungslos und führt die Debatte auf ein Gleis, auf das sie nicht gehört. „Sie hätte ja zum RIAS gehen und dort auspacken können.“ Eine kluge junge Frau brachte das kürzlich in einer Diskussion vor, dabei klang ihre Stimme gelassen, ihr Gesicht blieb glatt, ihr Auge hell. Anna Seghers hätte können? Mal rasch über die Straße? Und dann?
Der Kalte Krieg, frostklirrend, konnte jeden Tag in den Schießkrieg umschlagen. Zwei Blöcke standen sich atomwaffenstarrend gegenüber, der Riß durch die Welt ging mitten durch Berlin. Es gab keinen dritten Weg, schon gar nicht für Anna Seghers. Die Flucht in die westliche Öffentlichkeit hätten den Bruch mit ihrer Vergangenheit, ihrer Partei, ihrer Philosophie, ihrer Erfahrung und allen ihren Freunden, mit ihren Büchern und – immer noch – Hoffnungen bedeutet. Sie war nicht blind und taub über die stalinschen Hexenprozesse hinweggegangen, sie litt im Zwiespalt, wie alle ihre Gefährten. Der Hitler-Stalin-Pakt hatte Spalten in ihr Lebensbild geschlagen, aber zum Bersten war es nicht gekommen.
Plädoyer für eine Tote, 1990

Walter Jens
Gerechtigkeit, mit Erbarmen vereint: Anna Seghers‘ Sozialismus im Roman und Essay undogmatisch und weit exemplifiziert, wartet darauf, im Zeichen von Glasnost couragiert und sorgsam neu bedacht zu werden -Schriftstellern zu Ehren, die in den Jahren des Nationalsozialismus zwischen Shanghai und New Mexico der Welt verdeutlichten, daß das Deutschland Goethes nicht in der Reichskanzlei, sondern in den Baracken von Buchenwald aufbewahrt werde.
«Anna Seghers», 1990

Heiner Müller

Jetzt sind Sie tot, Anna Seghers
was immer das heißen mag
Ihr Platz; wo Penelope schläft
Im Arm unabweislicher Freier
aber die toten Mädchen hängen an der
Leine auf Ithaka
von Himmel geschwärzt, in den
Augen die Schnäbel
während Odysseus die Brandung pflügt
am Bug von Atlantis
«Epitaph». Entstanden 1990, veröffentlicht in:
«Argonautenschiff.1/1992, Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft»