Folge 44: „Im Schatten zweier Sommer“
Der neue Roman von Jan Koneffke über Joseph Roth zwischen Fakten und Fiktion

Jan Koneffke, 1960 in Darmstadt geboren, pendelt schon lange zwischen Berlin, Bukarest und Wien. Dort, in Wien, bemerkte er eines Tages, dass in dem Haus, in dem er lebte, der Schriftsteller Joseph Roth („Radetzkymarsch“, „Hiob“, Die Legende vom heiligen Trinker“ u.a.) als junger Student gewohnt hatte.
Das war der Auslöser für den Roman „Im Schatten zweiter Sommer“, der zwei Episoden im Leben des wunderbaren, weltberühmten und unglückseligen Autors beschreibt, der viel zu jung als verzweifelter Trinker im Exil verstarb.

Einmal im Sommer 1914 in Wien, kurz vor dem Ausbruch des I. Weltkriegs. Der schüchterne jüdische Junge war gerade aus Galizien, der entlegenen Provinz im Osten des K.u.K.-Reichs gekommen, um in der Hauptstadt sein Studium aufzunehmen. Und es beginnt eine platonisch-zarte, eine schüchtern verwirrende Liebesgeschichte zu der zwar jüngeren, aber gescheiten und emanzipiert erzogenen Tochter der Vermieter.

Und zum andern im Sommer 1938 in Paris, ein Jahr vor dem II. Weltkrieg. Da ist Joseph Roth längst ein erfolgreicher und weltberühmter Autor, der vor den Nazis nach Paris geflohen ist. Und dort in der Emigrantenszene lebt, seine Tage in Cafés und die Nächte im Hotel verbringt, schreibt, diskutiert, parliert und sich zu Tode trinkt. Hier trifft er Fanny wieder, die ebenfalls vor den Nazis geflohen ist, und es beginnt für wenige Monate eine letzte verzweifelte Liebe.
Es ist ein kleines Wunder wie es Jan Koneffke in diesem Roman gelingt, Wirklichkeit und Fantasie zu einem hinreißenden erzählerischen Amalgam zu verschmelzen: Die Fakten der authentischen Biografie Joseph Roths mit der Fiktion der erfundenen Fanny zu verweben, wobei ihre fingierten Tagebücher und Tonkassetten das formale Gerüst des Romans bilden.

In Folge 44 von Podcastliteratur.de redet Jan Koneffke mit Klaus Wiegerling und Theo Schneider über Motive, Entstehung und Arbeit an seinem Roman „Im Schatten zweier Sommer“ und stellt Passagen daraus vor.

Jan Koneffke
Im Schatten zweier Sommer
Roman
Galiani Berlin 2024
Gebunden mit Schutzumschlag
304 Seiten, € 24.- (D) / € 24,70 (A)
ISBN 978-86971-270-3

Pressetext des Verlags Galiani

Von der Leichtigkeit eines Wiener Sommers 1914 – und dem drohenden Gewitter des Krieges im Paris der späten Dreißiger

Es ist ein höchst ungewöhnlicher Fund, den einleitend der Erzähler in Jan Koneffkes Roman Im Schatten zweier Sommer macht. Im Nachlass seiner von ihm maßlos verehrten Tante Fanny findet er nicht nur zahlreiche signierte und mit ihren Notizen gefüllte Joseph-Roth-Erstausgaben, sondern auch ihr Tagebuch aus der Zeit kurz vor dem ersten Weltkrieg und zudem zehn Tonbandkassetten. Auf denen erzählt sie, wie sie 1938 – aus dem inzwischen von den Nazis beherrschten Wien auf abenteuerliche Weise geflohen und als Exilantin frisch in Paris angekommen – den Mann wiedertrifft, in den sie als junges Mädchen in Wien einige Monate lang verliebt war: Joseph Roth. Im Tagebuch und auf den Tonbändern entfaltet sich im Folgenden ein Zeitbild des letzten Sommers vor dem Ersten und des vorletzten vor dem Zweiten Weltkrieg und der Bericht zweier hochdramatischer Episoden in Fannys Leben.

Im Tagebuch ist die höchst eigenwillige und durchsetzungsstarke ungewöhnliche Frau, die er kannte und verehrte noch ein unsicheres junges Mädchen, Tochter des sozialistisch engagierten jüdischen Schuhmachers Fischler und seiner Frau, kurz vor Schulabschluss, stets in Konkurrenz zu ihrer Schwester, mit der sie auch bald um die Aufmerksamkeit des neuen Untermieters konkurriert, eines wohl recht armen, schüchternen, etwas verqueren Studenten aus Galizien. Der scheint zwar manchmal stark widersprüchliche Angaben über seine Herkunft und Jugend zu machen, und sie lernt, nicht alles zu glauben, was er sagt, entwickelt aber auch sehr ungewöhnliche und hochinteressante Ansichten über Politik, Gott und die Welt und kann zudem äußerst einnehmend und charmant sein. Bald nähern sie sich an, und für die beiden beginnt ein heimlicher verliebter Sommer. Sie erforschen das vielvölkerstaatliche kaiserzeitliche Wien und genießen den Sommer, müssen aber auch miterleben, wie politische Spannungen sich entladen, etwa, als ein jüdischer Studienfreund Roths von Burschenschaftern bedroht wird. Und sie muss die Erfahrung machen, dass Roth manchmal enorm zugewandt und einfühlsam sein kann, manchmal aber auch höchst schroff und bis zur Beleidigung erratisch. Grandios dabei, wie Koneffke den Leser die geistige Entwicklung Fannys sprachlich über den sich ändernden Ton ihrer Tagebucheintragungen miterleben lässt und gleichzeitig Roth aus ihrer Sicht darstellt. Der verliebte Sommer endet in einer Trennung – und in geschichtlicher Dimension in einer Menschheitskatastrophe: Der Erste Weltkrieg bricht aus.

Lange Jahre werden die beiden sich nicht wiedersehen – bis es Fanny nach abenteuerlicher Flucht aus dem inzwischen ans Dritte Reich angeschlossene Wien 1938 nach Paris verschlägt, wo sie zufällig im Deutschen Hilfskomitee ihren ersten Sommerschwarm wiedertrifft. Davon erzählen ihre nachgelassenen Kassetten.

Roth ist inzwischen berühmter Schriftsteller geworden und befindet sich ebenfalls im Exil in Paris. Gerade hat seine letzte Geliebte, die Schriftstellerin Irmgard Keun, vor seinen Eifersuchtsanfällen die Flucht ergriffen. Der so cholerische wie charismatische Roth hält im Kreis der Autoren, Agenten und Verehrer um ihn (Soma Morgenstern, Stefan Fingal und andere) Hof wie ein Fürst. Er lebt – wie viele seiner exilierten Freunde – im Hotel, und spendiert der mittellose Fanny dort ein Zimmer. Die beiden
kommen sich wieder näher. Bald muss sie allerdings erkennen, dass er schwerer Trinker und jähzornig geworden ist. Zudem hört sie höchst beunruhigende Geschichten über seine alles zerfressende Eifersucht, die schon frühere Beziehungen ruiniert hat – und muss auch bald unschöne Szenen erleben. Dazwischen allerdings blitzen immer wieder der geniale Fabulierer und der scharfe Denker Roth auf, den die Welt bewundert – und der menschenliebende, selbstlose, höchst freigiebige Mensch, der er auch ist. Fanny wird ihn, der mit sich und der Welt zerstritten ist, lange begleiten – im November 1938 allerdings kommt es wieder zum Bruch und Fanny geht ihren eigenen Weg. Vom Tode Roths im Mai 1939 erfährt sie aus der Zeitung.

Jan Koneffke gelingt das Kunststück, die unbekannten frühen Jahre in Roths Biografie aus den Augen einer völlig authentisch wirkenden, aber erfundenen Figur zu füllen und gleichzeitig deren eigene Geschichte in einem sprachlich-mimetischen Bravourakt zu erzählen. Wesen und Werk Roths werden von seinen Anfängen als junger Student bis zu seinem tragischen Ende im Exil vielschichtig bespiegelt, und zudem gelingt Koneffke ein zeithistorisch gesättigter Roman über die Selbstfindung einer höchst bemerkenswerten Frau.

Pressestimmen

„Sehr gelungen, wie Koneffke Roths politische Haltung mit seiner zunehmenden Verelendung verflechtet. Ein hellsichtig rückwärts Gewandter, der dem Vielvölkerstaat das Wort redet, weil er den Nationalismus verachtet. Dass die frappierende Aktualität des Buches die spielerische Leichtigkeit nie überlagert, sondern elegant mitläuft, ist eine weitere Qualität des Romans … sehr empfehlenswert!” Angela Gutzeit, Deutschlandfunk Büchermarkt

Erfrischend zudem, wie der Roman dennoch weit von der Hagiographie entfernt bleibt: „Gestützt auf authentische Berichte erzählt er auch von der problematischen Seite Joseph Roths, von Roths Opportunismus und seiner bedenklichen Einstellung Frauen gegenüber. Und er hat mit seiner [Erzählerin] Fanny die perfekte Stimme geschaffen, um Roth aus nächster Nähe zu beobachten und ihm gegebenenfalls auch scharf Kontra zu geben.“ (Wolfgang Popp, ORF Ö1)

Jan Koneffke
(c) Foto Johannes Kauper

Jan Koneffke

Jan Koneffke, geboren 1960 in Darmstadt, studierte und lebte bis 1994 in Berlin, verbrachte danach 8 Jahre in Rom und pendelt seit 2003 zwischen Wien, Bukarest und dem Karpatenort Maneciu. Er schreibt Lyrik, Romane, Kinderbücher, Essays, Rundfunkfeatures und Hörspiele, Rezensionen, Drehbücher, Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge, übersetzt aus dem Italienischen und Rumänischen und ist Redakteur der Wiener Zeitschrift „Wespennest“. Seit 2021 betreut er eine eigene Fernsehreihe unter dem Titel „Mein Bukarest – Jan Koneffke“ für das 1. Programm des rumänischen Fernsehens (TVR1). Mehrere Auszeichnungen und Preise, darunter Leonce-und-Lena-Preis, Stipendium der Peter-Suhrkamp-Stiftung, Rom-Preis der Villa Massimo, Usedomer Literaturpreis, Uwe-Johnson-Preis, Robert-Gernhardt-Preis.

Zuletzt erschienen von Jan Koneffke die Romane „Im Schatten zweier Sommer“ (2024), „Die Tsantsa-Memoiren“ (2020), „Ein Sonntagskind“ (2015) und der Gedichtband: „Als sei es dein“ (2018).