Extra: Brodski Joseph – Weihnachtsgedicht von 1989

Ein Wunder in der Welt der Wüste – das war, so sagt die Legende, Christi Geburt. Das war das erste Weihnachten. Und Wunder in der Wüste der Welt sind bisweilen Gedichte.

Das gilt ganz sicher für die Weihnachtsgedichte des russischen Autors Joseph Brodski, der inhaftiert und ins Exil gejagt wurde, ab 1972 in den USA lebte und 1986 den Nobelpreis erhielt. Der hatte, obwohl er aus einer jüdischen Familie stammte und kaum religiös war, die seltsame Angewohnheit drei Jahrzehnte lang jedes Jahr ein Weihnachtsgedicht zu schreiben.

Eines davon stellt Ihnen Theo Schneider hier vor.

Die Gedichte liest Kerstin Bachtler.

Quelle: SWR 2, Gedichte und ihre Geschichte

__________________________________________________________

Vielleicht muss man zuerst der Versuchung widerstehen, aus dem leidenden Dichter einen Christus zu machen. Obwohl es genug Parallelen gibt. Die Juden-Kinder-Killer Herodes und Hitler zum Beispiel. Joseph Brodski wurde 1940 in Leningrad geboren. Das die deutschen Truppen 900 Tage lang aushungerten und beschossen. Jedes Kind, das überlebte, war ein Wunder.

Joseph Brodski war das einzige Kind jüdischer Intellektueller, und wuchs bei ihnen in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung auf: die Heilige Familie selbdritt!

So beginnt das Weihnachtsgedicht von 1990


Nicht wichtig, was ringsum war, nicht wichtig für heute,
worüber der Schneesturm so langgedehnt heulte,
daß eng ihnen war in der einfachsten Bleibe,
daß sie keinen anderen Platz hatten leider…

Denn erstens: sie waren beisammen. Und zweitens,
ganz wichtig: zu dritt, unter all diesen Leuten……“

Mit 15 verlässt Joseph Brodski vorzeitig die Schule. Seinen „ersten freien Willensakt“ wird er das später nennen. Rebellion gegen den Stumpfsinn der autoritären Lehrer, Trotz, Sturheit, Provokation. Sie bleiben Brodskis Eigenschaften, ein Leben lang. Nicht als politsches Projekt. Sondern als persönliche Position: Widerstand und Eigensinn.

Er schlägt sich mit vielen Jobs durch. Vom Leichenwäscher bis zu geologischen Expeditionen durch die Sowjetunion. Schreibt Gedichte. Wird veröffentlicht. Und diffamiert. Auf der Strasse zusammengeschlagen, in die Psychiatrie eingewiesen, inhaftiert. Das ganze Programm der antintellektuellen Eiszeit der Breschnew-Ära. 1994 wird er wegen „Parasitentum“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt und in ein Straflager im Norden Sibiriens deportiert.

So kommt es, dass die Schneestürme des Nordens, Frost und Winterlandschaften in seinen Gedichten der wüstenweihnachtlichen Heilsgeschichte auftauchen. Und Gott wird zum allmächtigen Lagerkommandanten.


Im Norden, wenn sie an Gott noch glauben,
haben sie den Kommandanten des Lagers vor Augen,
wo sie uns allen gleichsam die Flanken zerprügeln…“

Und doch – selbst hier im Gulag, offenbaren sich Weihnachtswunder, das pure Glück des Überlebens:


An Wunder glauben – ist zu spät.
Du hebst den Blick zum Himmel, lebst,
da fühlst du plötzlich klar, du selbst –
bist das Geschenk.“

So endet das erste Weihnachtsgedicht im Lager von 1965. Dank Interventionen aus dem Westen wird Brodski nach 18 Monaten begnadigt. 1972 wird er unter massiven Drohungen zur Ausreise gezwungen, wobei ihm sämtliche Manuskripte abgenommen werden. Er geht ins Exil in die USA. 1987 erhält er den Literaturnobelpreis. Er stirbt 1996 in New York, ohne jemals wieder in seine Heimat zurückgekehrt zu sein. Gereist ist er dennoch viel. Vor allem nach Italien, wo er häufig die Wintermonate verbrachte. Oft war er zu Weihnachten in Venedig, hier, auf San Miquele, ist er auch begraben.

Und aus Italien, aus der italienischen Malerei des Mittelalters und der Renaissance, die er immer wieder in den Musseen vor Ort studiert hat, von Bellini, Mantegna, Giotto stammt die christliche Bildwelt seiner Weihnachtsgedichte. Und obwohl der Dichter aus einer jüdischen Familie stammte und kaum gläubig war – vielleicht aber gerade auch deshalb !? –
gelingen ihm atemraubende Bilder christlicher Mystik:

„Denk dir, daß der Herr in dem Mensch-Sohn, dem neuen
erstmals Sich erkennt, aus der gewaltigen großen
Distanz in dem Dunkel: Obdachlos im Obdachlosen.“

Nicht nur wir Menschen sind obdachlos in den Weiten der Wüsten, sondern auch Gott ist obdachlos im Universum. Was er zum ersten Mal erkennt, wenn er das obdachlose Wurm in der Grotte erblickt. Und da er die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, ist er folglich auch selbst nur ein armes obdachloses Wurm in den Weiten des Weltalls: „Obdachlos im Obdachlosen.“

Ja, das hat was, wie uns da der ungläubige Dichter jüdischer Abstammung den hartesten Kern der christlichen Weihnachtsbotschaft erklärt. Ihren innersten sanftesten, menschlichsten Kern unendlicher Barmherzigkeit und Solidarität.
Aber zuvor gibt er uns in seinem Weihnachtsgedicht vom Dezember 1989 noch die Gebrauchsanweisung dafür, wie wir uns das Bühnenbild für diese Szene vorstellen können:

Im Streichholzlicht denk dir den Abend in der Grotte,
benutz, um die Kälte zu spüren, im Boden
die Risse, nimm Geschirr, und den Hunger schon fühlst du,
und was die Wüste betrifft: überall ist die Wüste.

Im Streichholzlicht denk dir die Grotte, die Nacht dann
das Feuer, den Umriß der Tiere, der Sachen,
im Handtuch die Falten – als Gesichter verschwimmend –
Maria und Joseph, den Säugling im Bündel.

Denk dir die drei Könige, den Zug der Karawanen
zur Grotte; viel eher ein Nahen dreier Strahlen
zum Stern hin, das Knirschen der Fracht, das Geklirre
(das Kind hat noch gar nichts verdient für ihre

Glocke samt Echo in der dichtesten Bläue).
Denk dir, daß der Herr in dem Mensch-Sohn, dem neuen
erstmals Sich erkennt, aus der gewaltigen großen
Distanz in dem Dunkel: Obdachlos im Obdachlosen.

Die Weihnachtsgedichte von Joseph Brodski sind
im Hanser Verlag München erschienen.
Daneben behandelt der Heidelberger Autor Ralph Dutli in
seinem Buch „Nichts als Wunder“. in drei Kurzessays die Lyrik von Brodski u. a. auch die Weihnachtsgedichte.

Joseph Brodski
Weihnachtsgedichte
96 Seiten
Hanser Verlag
Fester Einband
ISBN 978-3-446-20362-4
Deutschland 12,90