Extra: Dichter, Priester, Revolutionär und
Sternenstaub. Zum 100. Geburtstag
von Ernesto Cardenal am 20.1.2025

Sternenstaub. So könnte ich dich ja jetzt nennen: „Ernesto Sternenstaub“!
Bist du schon Sternenstaub, fünf Jahre nach deinem Tod? Schon wieder? Oder noch immer? Und hundert Jahre nach deiner Geburt am 20. Januar 1925 in Granada?

In diesem großbürgerlichen Haus, in dem du mit deinem Freund Dietmar Schönherr, – Commander McLane, der sein Raumschiff „Orion“ mit Bügeleisengriffen steuern konnte und den Präsidenten der USA, Ronald Reagan, in seiner Samstagabendshow im Fernsehen ein „Arschloch“ nannte, was eine Wahrheit war, die man in der ARD natürlich nicht sagen darf, und die mit sofortigem Berufsverbot bestraft wurde – das größte Kulturzentrum Nicaraguas, das „Casa De Los Tres Mundos“ eingerichtet hast. 1988 begründet, wurde es im vergangenen Jahr per Staatsdekret geschlossen, wobei Gebäude und Inventar der deutschen Stiftung enteignet und geraubt wurden.

Oder später als junger Schüler in León, in dieser stolzen Stadt im Norden am Pazifik, voll schöner stolzer Mädchen und Frauen. Von denen eine mich einmal wirklich wollte, aber ich armer Idiot musste meinen Pheromonen folgen, die Madame Dracula in Managua umsummten.
Auch dort waren wir zusammen, in León. Damals als ich den Film zu deinem 70. Geburtstag für die ARD machte. Auf der Geburtstagsfeier deiner Mutter. Ihr wievielter? Ihr Neunzigster? Fünfundneunzigster? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß noch genau wie nachdenklich versonnen du damals warst und wie die Frage die Luft zwischen deinen Augen verdunkelte: Werde ich auch einmal so alt werden wie sie?

Ja, so alt wirst du auch einmal werden. So alt bist du geworden: Ernesto Sternenstaub. Mit dem Familiennamen „Cardenal“, höchst sinnig und hintersinnig und ironisch angesichts deines Berufs, deines Rufs, deines Ruhms. Gott hat manchmal wahrlich spitzbübischen Witz, wenn er einen großen Kritiker der höchsten Klasse der klerikalen Mafia „Kardinal“ tauft und seinen jüdischen Urgroßvater „Taifel“. Ehrlich Ernesto, das muss ich dir sagen: Gott hat entschieden mehr Humor als du!

Denker und Theoretiker der Theologie der Befreiung, ihr wichtigster Poet. Oft haben wir damals darüber geredet, weil ich mich der Theologie der Befreiung verbunden gefühlt habe und ihre wichtigsten Vertreter in Lateinamerika und Deutschland besucht und interviewt habe. Und vielleicht warst du nicht nur ihr wichtigster Dichter, sondern auch ihr wichtigster Mystiker. Ja, so seltsam sich das auch anhören mag: „Mystiker der Befreiungstheologie“. Wann bist du bei Gott?, habe ich dich gefragt. Wie ist das ? Wo ist das? Innen. Ganz innen. In der tiefsten Versenkung. Im Nichts. Jenseits des Universums. Dort, wohin es sich ausdehnt. In uns.

Die Bände deines „Canto cosmico“ sind deine Genesis. Die Gesänge vom Entstehen des Alls und Allem. Aber, wie viele deiner Gedichte, immer auch von deinen anderen zentralen Themen durchdrungen: Kampf gegen Ungerechtigkeit, Anprangerung der Armut, Anklage gegen die Gewalt der Herrschenden und Konzerne, Plädoyer für Gottes Reich schon hier auf unserer Erde, Religion und Revolution, Liebe.
Immer wieder haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten getroffen. In Deutschland und in Nicaragua. Ich weiß nicht mehr wann es das erste Mal war. Im Peter Hammer Verlag in Wuppertal? Oder doch später im Kulturministerium in Managua? Oder war es nicht doch Anfang der Achtziger in Darío beim großen Treffen der Dichterwerkstätten, die du erfunden und begründet hattest? Wo ich eiligst aufs Klo rannte und in meinem rasenden Lauf über ein zweieinhalb Meter großes Krokodil stolperte und auf die Betonplatten krachte.
Ach, jetzt rede ich schon wieder von mir. Ernesto Sternenstaub. Den ich noch immer nicht kenne. Obwohl wir uns so oft gesehen haben. Wochen und Monate lang, als ich die Recherchen und Organisation und dann den Dreh für den Fernsehfilm in der ARD zu deinem 70. Geburtstag unternahm, in León, in Granada, in deinem Haus in Managua, in der Werkstatt deiner Skulpturen, sogar im Schlafzimmer, wo deine Werkzeuge zum Bau von Gedichten auf deinem Nachttisch ausgebreitet lagen: Stifte und Papiere, Lineale und Scheren und Klebstoff, mit denen du Texte zerschnitten und neu kombiniert hast.

Und da wo dein zweites, vielleicht dein wichtigstes Zuhause war: Auf der Insel des Archipels im Großen See von Nicaragua, wo ihr 1966 die christliche Kommune von Solentiname begründet habt, die später weltberühmt werden wollte. Wo du „Das Evangelium der Bauern von Solentiname“ geschrieben hast. Auch da haben wir gefilmt, dich in der winzigen Kirche, kaum größer als der Stall in Bethlehem, mit dem Fußboden aus gestampftem Lehm und den einfachen Holzbänken voller Bäuerinnen, die ihre Kinder stillten und murrten, weil du keinen Gottesdienst halten durftest. Denn der bösartige erzreaktionäre Papst, hatte dir die Ausübung aller Priesterämter verboten, weil ihm nicht passte, dass du Kulturminister der sandinistischen Regierung warst. Und der dich bei seinem Besuch in Nicaragua wie einen Klippschüler abkanzelte als du vor ihm hinknietest und seinen Ring küssen wolltest. Das Bild ging um die Welt. Ernesto, ehrlich, ich habe nie verstanden, warum du dir das angetan hast.

Erinnerst du dich noch an meine verrückten Bildideen beim Filmen, als ich dich mit dem Hubschrauber in einem Vulkankrater absetzen und wie ein vierflügeliger Serafim in den Himmel entschweben lassen wollte? Stattdessen sackte der MI-8 plötzlich hundert Meter ab als seine Rotorblätter einen Geier zerhackten. Und du hast keine Miene verzogen: Unerschütterlich. Unerschrocken. Wie der Revolutionär, der gegen die Somoza-Diktatur kämpfte, der sich durch die mühseligen und armen Ebenen der Arbeit eines fast mittellosen Kulturministeriums wurschteln musste. Unerschrocken und unerschütterlich auch als sich die Sandinistische Revolution in die Kleptokratie Ortegas und seiner Kumpane verwandelte und die Revolution ihre Kinder fraß.

Unerschrocken und unerschütterlich als Theologe der Befreiung, Kritiker ungerechter Verhältnisse, Priester, der von der klerikalen Mafia gemaßregelt wurde. Der stur darauf bestand und keinen Deut davon abrückte: Ich bin Marxist und Christ. Und Dichter. Deine ganze eigene heilige Dreifaltigkeit.

Und gern warst du Gast in meinem Haus, wo du gewohnt hast, während ich dich zu deinen Lesungen fuhr und die deutschen Übersetzungen sprach. Unser größtes Publikum: Sechstausend beim Evangelischen Kirchentag 1993 in München. Und wenn ich dich bekochen durfte. Erinnerst du dich noch an dein Lieblingsessen? Forelle mit Mandeln, mit Kartoffeln und Butter und Riesling.
Trucha con Almendras
Ein Fisch aus der Familie der Salmen.
Für den Dichter der Psalmen.

Ernesto Cardenal
Foto: (c) Peter Hammer Verlag
Im Haus von Ernesto Cardenal in Managua, 2015
Foto: (c) Theo Schneider

Pressemeldung zum Tod von Ernesto Cardenal (PETER HAMMER VERLAG, Wuppertal, März 2020)

Weitere umfangreiche Infos zu Ernesto Cardenal finden Sie bei Wikipedia: Ernesto Cardenal bei Wikipedia

Lieferbare Werke in deutscher Sprache (alle im Peter Hammer Verlag):

Gesänge des Universums/Cántico Cósmico (1995)
Das Buch von der Liebe (Neuausgabe 2004)
Verlorenes Leben (Erinnerungen Bd. 1, 1998)
Niemand ist mir so nahe (Gedichte, spanisch-deutsch, 2005)
Zyklus der Sterne (2006)
Psalmen (1967), Neuauflage 2008
Transitreisender (2008)
Wieder kommst du zu mir wie Musik (Gedichte, 2010)
Aus Sternen geboren. Das poetische Werk (2012)
Diese Welt und eine andere (Essays, 2013)
Etwas, das im Himmel wohnt (Gedichte, 2014).

Weitere Informationen zu den lieferbaren Werken von Ernesto Cardenal in deutscher Sprache finden Sie auf den Seiten des Peter Hammer Verlags
https://www.peter-hammer-verlag.de/autoren-details/cardenal_ernesto

„Weitere Bücher von Ernesto  Cardenal“  findet man im Internet auf den Seiten von Antiquariaten u.a., z.b. bei ZVAB“