Hans Thill ist seit 2010 Leiter des Künstlerhauses des Landes Rheinland-Pfalz in Edenkoben. Seit 2000 leitet er dort die Reihe „Poesie der Nachbarn – Dichter übersetzen Dichter“.
Hans Thill ist (der Begriff hört sich immer ein bisschen voluntaristisch an) „Literaturaktivist“ in vielen anderen Bereichen der deutschen Literaturszene. (Mitbegründer des Heidelberger Wunderhorn Verlags, war „Writers for peace“-Beauftragter des PEN, ist Übersetzer und Herausgeber vieler Autoren und Anthologien.
Hans Thill ist vor allem aber auch selbst ein Dichter, der u.a. mit dem Peter-Huchel-Preis und dem Baseler Lyrikpreis ausgezeichnet wurde und der bislang 7 Gedichtbände und zwei Bücher mit Prosaminiaturen veröffentlicht hat.
Mit höchst ungewöhnlichen Texten, die kaum den Regeln einer vertrauten Poetik folgen. Die eher in der Nachfolge der „Oulipo“-Bewegung stehen. (Die Bewegung wurde 1960 in Frankreich gegründet und zeichnet sich dadurch aus, dass bei der Entstehung ihrer Texte formelle außerliterarische Regeln und einengende Zwänge angewendet werden. Bei uns am bekanntesten sind wohl Autoren wie Raymond Queneau, Georges Perec oder Oskar Pastior, der übrigens häufig Gast des Künstlerhauses war.)
Die beiden Bücher mit Prosaminiaturen sind „Das Buch der Dörfer“ (2014) und zuletzt „Neue Dörfer“. Und diese „neuen Dörfer“ stellt Hans Thill in dieser Kostprobe von podcastliteratur.de in Lesung und Gespräch mit Theo Schneider vor.
Diese Prosaminiaturen hat die Rezensentin im Deutschlandfunk als „Kraftwerk aus Quatsch“ bezeichnet, was keinesfalls abwertend gemeint war. Und was die beiden wichtigsten Eigenschaften dieser kurzen Prosastücke erfasst, die jeweils nur fünf bis zwanzig Zeilen lang sind.
Denn sie sind wirklich „Quatsch“, wenn man sie mit den üblichen Kategorien der Sinnsuche bewertet. Sie erzählen keine Geschichte, bauen keine Bilder und Metaphern (eher Met-Affen) und beschreiben keine Orte im gewohnten poetischen Sinn.
Und doch enthalten sie diese (und noch viele andere mehr) formalen Elemente von Literatur. Nur anders als wir es gewohnt sind. Ebenso ihre „Inhalte“. Sie sind nicht Teil des üblichen Bedeutungsspiels, wo A für B steht, wo dieser Satz jenes bedeutet, wo ein gewissermaßen umklappbares Repräsentationsverhältnis vorherrscht.
Insofern sind sie „Quatsch“.
Aber wenn sie nicht durch die übliche Konstruktion von Bedeutung entstehen, wie entstehen sie dann? Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht wissen. Weil der Prozess ihrer Entstehung in zwei einerseits realen, aber immer auch ständig virtuellen Hirnen sich abspielt. Das eine ist das unendliche Hirn der Sprache(n). Und das andere Hirn ist das Hirn von Hans Thill. In das weder Elon Musk noch ich hineinschauen kann und das auch er selbst nur in kleinen Teilen kennen wird. Was in den Feuern seiner Synapsen aus Erinnerungen, Wahrnehmungen und Wünschen entzündet wird, das weiß auch er selbst erst, wenn er es hingeschrieben hat und liest.
Schreiben um zu wissen was wir denken!
Da wir nicht in seinen Kopf sehen können („Phuuu Mama, guck mal wie es da drunter aussieht!“ – sagte einmal die kleine Tochter einer Bekannten als sie zum ersten Mal ein enthäutetes Reh sah), können wir seine Bedeutungs- und Sinngebungen auch nicht wissen.
Was aber kein Grund zur Verzweiflung ist. Und schon gar kein Grund, um solche Texte nicht zu lesen. Ganz im Gegenteil! Es ist der Grund für unsere Freiheit, damit zu machen was wir wollen. Wir dürfen nach Belieben, nach Lust und Launen in diesen Wunderdünen aus SprachLegosteinen wühlen und spielen und die Maschinen ihrer Texte mit den Maschinen unserer Hirne verkoppeln und Sinnklötzchen basteln.
So werden sie zu Katalysatoren, zum Brennstoff für die Feuer zwischen unseren eigenen Synapsen.
Insofern sind die „Neue(n) Dörfer“ ein „Kraftwerk“.
Die Welt bedeckt ein Schwarm von Dörfern.
Hans Thills Reise führt von Dorf zu Dorf, und es tritt Überraschendes zutage: Bescheidenheit in der Anlage, Kühnheit in der Imagination, grassierende Großmannsverachtung und Metropolenskepsis, die wie weiland Georg Büchner ausrufen möchte: Friede den Hütten!
In der Folge entsteht eine Geografie der inneren Landkarten, die insgesamt einer Phänomenologie aller denkbaren der Dörfer nahekommt, philosophisch wie ein Stapel gefällter Baumstämme.
»Da ist also ein Dichter mit überaus überraschenden Bildfindungen und Verwandlungsstrategien, der immer wieder sich und uns zuruft: Bitte schön unregelmäßig schreiben!«
Michael Braun
Bibliografie Hans Thill (nach Wikipedia)
Gelächter Sirenen. Gedichte. Wunderhorn, Heidelberg 1985.
Zivile Ziele. Gedichte. Wunderhorn, Heidelberg 1995.
Kopfsteinperspektive. Post aus Plovdiv und Sofia. Wunderhorn, Heidelberg 2000.
Wetterseite. Gedichte. In: Gregor Laschen (Hg.): An die sieben Himmel. Sieben Dichter besuchen sieben Landschaften. Wunderhorn, Heidelberg 2002.
Kühle Religionen. Gedichte. Wunderhorn, Heidelberg 2003, ISBN 978-3-88423-212-5.
Museum der Ungeduld. Gedichte. Wunderhorn, Heidelberg 2010.
Das Buch der Dörfer. Berlin (Matthes & Seitz) 2014.
Ratgeber für Zeugleute. Gedichte. Berlin (Brueterich Press) 2015.
Der heisere Anarchimedes. Gedichte. Reihe Neue Lyrik, Band 16. poetenladen, Leipzig 2020, ISBN 978-3-948305-04-8.
Neue Dörfer, poetenladen, Leipzig, 2023